Die Rückkehr
Sterne verblassen wie Erinnerungen im Augenblick vor der Morgendämmerung. Tief im Osten erscheint die Sonne golden wie ein sich öffnendes Auge. Was benannt werden kann, muss existieren. Was benannt wird, kann geschrieben werden. Was geschrieben ist, soll erinnert werden. Was erinnert wird, lebt. Im Land Ägypten atmet Osiris. Die Sonne geht auf und der Nebel verzieht sich. Wie ich bin, war ich und werde ich sein, ein Wesen aus Materie und Himmel.
An einem Mittsommertag fliegen Käfer singend aus dem trockenen Gras, um die Sonne wie eine Dungkugel zu heben. Am Himmel, hell wie der Bauch von Nut über ihrem Geliebten, glänzt die Sonne wie gelber Jaspis. Der Körper des Himmels liegt glatt und fest wie ein Ei. Es ist eine Freude, den Wind zu lecken. An unzähligen Morgen sehe ich die Feuerkugel rollen und Tränen über meine Wangen rinnen. Die Seelen der Menschen, wie Tränen von Ra, strömen über das Gesicht des Himmels. Das Auge des Grossen sieht, wie Sterne verblassen.
Osiris kehrt vom Berg des Sandes zurück ins grüne Land seiner Geburt. Der Morgen kommt nach Ägypten. Über eine Weite aus Schmutz und Stein dehnen sich kühle Schatten zum Berg, wo in trockenen Gräbern die Toten gähnen, sich fragend, wer das Tempelfeuer entzündet und wer süssen Kuchen gebracht hat. Ich, Osiris, erhebe mich und eile in die zwei Länder der Lebenden. Schwarze Erde und rote Erde vereinen sich durch eine Schnalle des Himmels. Ich umarme den doppelten Horizont. Ich umarme die zwei Berge, den Osten und den Westen. Ich bin der Gott der Lebenden und der Toten, umfange meine Seele und meinen Schatten.
Das Ka von Osiris wächst helle Flügel. Sein Gesicht strahlt vor weisser Hitze. Über den Feldern spreche ich mit der Stimme eines Habichts, mein Auge scharf wie eine Klinge gegen das Weizen. Ich spreche das Wort, aus dem ich gemacht wurde. Ich spreche von Wahrheit und Pracht und Stärke, von der Ehre des Todes und der Macht der Rückkehr. Ich spreche vom gekrönten Ibis.
Wo Götter sich versammeln, wird das Herz still. Eine Prozession von Jabirus schreitet voran, legt die Eier anderer Leben, von blauen Seelen in einer anderen Zeit. Weihrauch steigt auf, wo Götter sich sammeln. Himmel und Erde sind lange Träume, gewogen in der Waage. Ein Mann ist bekannt durch seine Worte und Taten. Schön ist die neue Sonne, die in einem Fluss des Himmels im Boot des Morgens segelt. Schön ist ein Mann in seinen Momenten der Zeit, tausend Gedankenperlen auf einer weissen Schnur.
Dunkelheit weicht dem Licht, Stummheit der Sprache, Verwirrung dem Verständnis. Die Verschlinger der Toten erhalten ihre eigenen trockenen Knochen zu essen. Der Wurm, der das Auge von Ra aussaugen wollte, wurde von Speeren des Lichts durchbohrt. Sein grünes Herz wurde ins Feuer geworfen; es zischt wie faules Fleisch.
Das Haus des Alten ist ein Aufruhr des Lebens. In hellen Ecken singen Kinder, weil ihre Mutter geboren hat. Die Welt wird neu mit Lachen. Die Saiten der Leier summen. Die Sonne flutet das Land und die Städte mit Licht. Boote segeln auf smaragdgrünen Wassern. Fische sind zurückgekehrt, um zu laichen. Im Feld schläft ein störrischer Esel, obwohl sein Herr ihn mit einem Stock schlägt. Ich lache, denn ich bin heimgekehrt. Ich bin zufrieden mit dem Lauf der Stunden.
Das ist die Bedeutung von gestern – dass Freunde meinen Namen erinnern und nach langen Reisen von ihren Stimmen am Wegesrand begrüsst werde. Sie umarmen meine Hände und Füsse
. Schau, welchen Mais und welche Trauben wir teilen. Schau, welche Fülle an Fleisch. Unter dem Auge des Grossen sammeln sich die Kinder Ägyptens. Ihre vier Winde versammeln – Bergbewohner, Korbweber, Töpfer und Musiker.
In meinem Leben habe ich die Liebe der Menschen gekannt und Götter auf ihren langsamen Barken vorüberziehen sehen. Das Ka von Osiris wandelt, wo es will. Ich bin Gedanke, Schatten, Knochen. Ich bin der schwarze Ibis, der am Mais pickt, und die Klinge eines Jagdmessers. Ich bin der Hüter von Sonne und Mond, der Falke, der zwischen ihnen fliegt. Mir sollen Tag und Nacht und aller Raum dazwischen gegeben werden. Im Boot des Morgens und im Boot des Abends werde ich Zugang zu Verborgenem erlangen. Gesetz und Wahrheit, Erinnerung und Zeit sollen meine Segel und mein Ruder sein.
Dies ist das Hinausgehen der Götter ins Land des Triumphs. Der Fluss ist smaragdgrün und erfüllt von Licht. Der Kurs dieses Bootes ist wahr. In meinem Herzen hat immer die Anmut von Schilfrohr gelebt. Wie ein Obstbaum, der am Nilufer aufkeimt, erhebt sich aus meinem Namen die Geschichte Ägyptens. Was geschrieben ist, soll erinnert werden. Osiris lebt im Land seiner Geburt.
Aus dem ägyptischen Totenbuch – Das Buch vom Heraustreten in das Tageslicht – Das Ani-Papyrus
Von mir ins Deutsche übersetzt, basierend auf der englischen Version von Normandi Ellis.