Bluthochdruck: Wie die Pharmaindustrie Grenzwerte beeinflusst

Bluthochdruck: Ärzte bremsen Pharmaindustrie

Ärzte erhöhen Schwelle für Blutdruck-Medikamente – über eine Million Schweizer können künftig auf Medikamente verzichten

High Blood Pressure Illustration

Kernaussagen des Artikels:

  • Europäische Gesellschaften erhöhen Behandlungsschwelle auf 140/90 mmHg (bei über 80-Jährigen 150 mmHg)
  • Milder Bluthochdruck (140-159/90-99 mmHg) wird wahrscheinlich unnötig medikamentös behandelt
  • Cochrane-Studie zeigt: Nutzen von Medikamenten bei mildem Bluthochdruck nicht bewiesen
  • Pharmaindustrie hat massiven finanziellen Einfluss auf Behandlungsrichtlinien

Erfreuliche Nachricht für viele Patientinnen und Patienten mit erhöhtem Blutdruck: Die Europäischen Gesellschaften für Hypertonie (ESH) und Kardiologie (ESC) machen einen Schritt zurück und empfehlen medikamentöse Behandlungen in der Regel nur noch, wenn die Blutdruckwerte in ruhigen Positionen regelmässig über 140/90 Millimeter Quecksilber (mmHg) steigen.

Bei über 80-Jährigen liegt die Schwelle sogar bei über 150 mmHg. Dies hat ein 24-köpfiges Expertengremium an der ESH-Jahrestagung in Mailand entschieden. Bisher galt die Empfehlung, den Wert unter 130 mmHg (oberer Wert) zu drücken.

Unabhängige Cochrane-Studie stellt Behandlung in Frage

Auch der leichte Bluthochdruck mit einem Wert zwischen 140 und 159 mmHg (oberer Wert) und/oder 90-99 mmHg (unterer Wert) werde wahrscheinlich unnötig mit Medikamenten behandelt. Die Schäden der Nebenwirkungen seien bei diesem leichten Bluthochdruck wahrscheinlich grösser als der Nutzen.

Zu diesem Schluss kam eine Untersuchung im Auftrag der unabhängigen Cochrane-Organisation. Die Analyse haben Diana Diao von der Universität von British Columbia in Vancouver und ihre Kollegen erstellt. Die Cochrane-Organisation wertet wissenschaftliche Untersuchungen aus und veröffentlicht die Ergebnisse in ihrer Online-Datenbank. Die beteiligten Wissenschaftler erhalten kein Geld von Pharmafirmen.

Cochrane-Studienergebnisse:

  • Studienumfang: 4 Studien mit insgesamt 9’000 Patienten mit mildem Bluthochdruck
  • Behandlungsdauer: 4 bis 5 Jahre mit verschiedenen blutdrucksenkenden Medikamenten
  • Ergebnis: Kein statistisch signifikanter Unterschied bei Herzinfarkt, Schlaganfall oder Todesfällen
  • Nebenwirkungen: Fast jeder zehnte Patient brach die Behandlung wegen Nebenwirkungen ab

«Wir wissen nicht, ob der Nutzen der Behandlung den Schaden aufwiegt»

Diana Diao, Cochrane-Forscherin

Deutlicher wurde Jerome Hoffman, emeritierter Medizinprofessor an der Universität von Kalifornien in Los Angeles: Milden Bluthochdruck mit Medikamenten zu behandeln könne vor allem von grossem Nutzen für den Tablettenhersteller sein. «Aber es war fast vorhersagbar, dass diese Therapie keinen oder nur einen geringen Wert für Patienten hat.»

Wie sich die Behandlungsschwellen veränderten

Noch Ende der 80er Jahre galten Blutdruckwerte erst ab 160/100 als behandlungsbedürftig. Doch Richtlinien der Schweizerischen Hypertonie-Gesellschaft, deren Sekretariat von der Firma Roche betrieben wurde, empfehlen seit den Neunzigerjahren Medikamente bereits ab einem Wert von 140/90.

Damit hatte sich die Zahl der «Kranken» auf einen Schlag mehr als verdoppelt. Die Industrie erzielt mit Blutdrucksenkern Milliardenumsätze.

Die Pharmafirmen hätten sich damals keinen besseren Werbespot erträumen können als die fette Blick-Schlagzeile: «Bluthochdruck: 1 Million Schweizer in Gefahr». Die «Ahnungslosen» würden «dringend» Medikamente brauchen. Denn schon «kleine Abweichungen» vom idealen Blutdruck seien «schädlich».

Solche Medienkampagnen sowie der Einfluss der Pharmaindustrie auf die medizinischen Gremien führten zur bis heute geltenden extrem tiefen Schwelle von 130 mmHg. Menschen mit höheren Werten galten bereits als behandlungsbedürftig und wurden zu Kunden der Pharmaindustrie.

Finanzieller Einfluss der Pharmaindustrie

Als die amerikanische Gesellschaft für Bluthochdruck daran ging, weitere Risikofaktoren und Gründe für Medikamenteneinnahmen festzulegen, hatten die Pharmakonzerne Novartis, Merck und Sankyo der ärztlichen Fachgesellschaft 75’000 Dollar bezahlt. Weitere 700’000 Dollar machten die drei Firmen locker, um die neuen Kriterien den Ärzten bekannt zu machen.

Das hatte die New York Times 2006 berichtet und gefordert, die Pharmfirmen sollten die Finger davon lassen, neue Krankheiten zu definieren. Novartis-Sprecher Satoshi J. Sugimoto bestätigte die Zahlungen, sah jedoch «keinen Interessenkonflikt».

Kein Wunder, erzielen die grossen Pharmakonzerne mit Medikamenten gegen zu hohen Blutdruck wachsende Milliardenumsätze. Ihr kommerzielles Interesse an möglichst tiefen Grenzwerten ist evident.

«Verkaufsmannschaften müssen genau dieselben Botschaften rüberbringen wie ein Fernsehspot»

Thomas Ebeling, ehemaliger Novartis-CEO

Für Pharmafirmen seien Umsatz und Marktanteile das A und O. Sie geben für Marketing 30 bis 35 Prozent ihrer Milliardenumsätze aus – für Forschung und Entwicklung reichen 13 Prozent, erläuterte der frühere Novartis-CEO Thomas Ebeling der NZZ.

Auf diese Risikofaktoren haben Sie selber Einfluss

Mehrere Faktoren tragen zu einem hohen Blutdruck bei. Je mehr Risikofaktoren man ausschaltet, desto stärker kann man seinen Blutdruck ohne Medikamente senken. Ohne Medikamente riskieren Sie keine langfristigen schweren Nebenwirkungen.

Beeinflussbare Risikofaktoren:

  • Bewegungsmangel: Regelmässige körperliche Aktivität
  • Übergewicht: Gewichtsreduktion
  • Rauchen: Kompletter Verzicht
  • Fettstoffwechselstörungen: z.B. erhöhte Cholesterinwerte
  • Diabetes: Blutzuckerkontrolle
  • Chronische Nierenerkrankungen: Behandlung der Grunderkrankung
  • Alkoholkonsum: Mäßigung oder Verzicht
  • Salzkonsum: Reduktion, besonders bei Fertiggerichten
  • Chronischer Stress: Stressmanagement
  • Bestimmte Medikamente: z.B. Rheumamittel, Antibabypille

Geltende Blutdruck-Definitionen

Aktuelle Klassifikation:

  • Leichter Bluthochdruck: 140-159/90-99 mmHg
  • Mässig erhöhter Blutdruck: 160-179/100-109 mmHg
  • Schwerer Bluthochdruck: ≥ 180/110 mmHg

Behandlungsempfehlung: Mässig und schwer erhöhter Blutdruck können mit grossem Nutzen medikamentös behandelt werden.

Fazit: Zurück zur evidenzbasierten Medizin

Die Anhebung der Behandlungsschwellen durch europäische Fachgesellschaften ist ein wichtiger Schritt zurück zur evidenzbasierten Medizin. Millionen von Patienten mit mildem Bluthochdruck können künftig auf Medikamente verzichten und stattdessen auf Lebensstiländerungen setzen.

Der Fall zeigt exemplarisch, wie kommerzielle Interessen der Pharmaindustrie medizinische Richtlinien beeinflussen können. Unabhängige Forschung wie die Cochrane-Studien ist daher von entscheidender Bedeutung für eine patientenorientierte Medizin.

Dieser Artikel basiert auf dem Originalbeitrag von Infosperber und zeigt die Bedeutung evidenzbasierter Medizin bei Bluthochdruck-Behandlungen auf. Er dient der Information und ersetzt nicht die individuelle ärztliche Beratung.


Originalquelle: Infosperber – «Ärzte erhöhen Schwelle für Blutdruck-Medikamente»