Hohen Blutdruck nicht zu früh mit Medikamenten senken
Neue Probleme können entstehen – Mediziner warnen vor Risiken zu schneller Behandlung

Kernaussagen des Artikels:
- Mediziner warnen vor Risiken, wenn hoher Blutdruck zu schnell mit Medikamenten gesenkt wird
- Die Grenzwerte für normalen und behandlungsbedürftigen Blutdruck ändern sich gelegentlich
- Derzeit gilt ein Blutdruck von 120/80 bis 129/84 mmHg als «normal», ab 140/90 mmHg liegt eine Hypertonie vor
Wer nicht zu jenen glücklichen Menschen mit eindeutig normalem Blutdruck gehört, sondern eher leicht darüber liegt, sieht sich seit Jahren mit unterschiedlichen und für Laien oft verwirrenden Ansagen konfrontiert. Im Kern geht es stets darum, ab wann ein Blutdruck als behandlungsbedürftig gilt und welcher Wert als Ziel einer medikamentösen Therapie anzustreben ist.
Ging vor Jahrzehnten ein oberer Wert von 100 plus das Lebensalter in Ordnung (bei einem 60-Jährigen entspräche das 160 mmHg), so ziehen die Mediziner heute weitaus niedrigere Grenzen. Die sogenannte Sprint-Studie kam 2015 sogar zu dem Ergebnis, dass es am besten sei, den oberen Wert auf unter 120 mmHg zu drücken.
Eine Empfehlung, vor deren unkritischer Befolgung viele Experten wie die der Deutschen Herzstiftung jedoch warnen, denn eine derart starke Senkung des Blutdrucks ist nicht für alle Patienten geeignet und kann sich vor allem bei älteren Menschen negativ auswirken.
Aktuelle Blutdruckklassifikation
Die aktuellen Grenzwerte nach Einteilung der Weltgesundheitsorganisation WHO, der European Society of Cardiology und der Deutschen Hochdruckliga:
Blutdruckklassifikation:
- Optimal: unter 120/80 mmHg
- Normal: 120-129/80-84 mmHg
- Hochnormal: 130-139/85-89 mmHg (noch keine Medikamente nötig)
- Hypertonie Grad 1 (mild): 140-159/90-99 mmHg
- Hypertonie Grad 2 (mittel): 160-179/100-109 mmHg
- Hypertonie Grad 3 (schwer): ≥ 180/110 mmHg
Medikamentöse Behandlung ist demnach erst ab Werten von 140/90 mmHg erforderlich, wenn eine Hypertonie Grad eins, ein milder Bluthochdruck, vorliegt.
Der umstrittene Grenzbereich
Strittig ist unter Experten insbesondere, wie mit Werten im Bereich von 130-140/85-90 mmHg umzugehen ist. Ist das noch gesund oder schon krank? Mediziner aus den USA haben sich für letzteres entschieden.
Das American College of Cardiology hat in seinen Leitlinien eine zusätzliche Kategorie eingeführt: «Stage 1 Hypertension». Das ist vor allem deshalb bedeutsam, weil die amerikanischen Kardiologen diesen Wert bereits als behandlungsbedürftig ansehen: Patienten, bei denen er wiederholt gemessen wird, bekommen deshalb blutdrucksenkende Medikamente verschrieben.
Amerikanische vs. europäische Leitlinien
Häufig sind die USA in der Medizin Vorreiter, und die Europäer ziehen wenig später nach. Im Fall der Einschätzung der leicht erhöhten Blutdruckwerte zeichnet sich das jedoch nicht ab. Auf ihrem Kongress im September 2018 beschloss die European Society of Cardiology, die bisherigen Grenzwerte beizubehalten.
Demnach wird eine medikamentöse Behandlung erst ab einem Blutdruck von 140/90 mmHg notwendig – nicht bereits bei den niedrigeren amerikanischen Grenzwerten.
Münchner Studie: Negative Folgen früher Behandlung
Ein Team von Wissenschaftlern der Technischen Universität München (TUM) und des Helmholtz-Zentrums München untermauert die europäische Entscheidung. Die Forscher sind zu dem Schluss gekommen, dass eine derart niedrige Schwelle für eine Behandlung keinen Schutz vor einer tödlichen Herz-Kreislauf-Erkrankung bietet.
Vielmehr kann die Einnahme von Tabletten gegen Bluthochdruck negative Folgen für die Psyche der Betroffenen haben – und sich darüber sogar negativ auf die Herzgesundheit auswirken; also das Gegenteil von dem bewirken, was die Therapie eigentlich erreichen soll.
«Die Idee hinter den US-Leitlinien ist, Bluthochdruck möglichst früh zu senken und durch die Diagnose einer Erkrankung die Patienten zu motivieren», erläutert Karl-Heinz Ladwig, Forscher an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des TUM-Universitätsklinikums rechts der Isar.
Zusammen mit seinem Team analysierte er die Daten von knapp 12’000 Patientinnen und Patienten über einen Zeitraum von zehn Jahren. Das Ergebnis: In der von den amerikanischen Kardiologen neu geschaffenen Kategorie «Stage 1 Hypertension» war das Risiko, an einer Herz-Kreislauferkrankung zu sterben, nicht signifikant höher als bei normalem Blutdruck.
Der psychologische «Labeling-Effekt»
Karl-Heinz Ladwig sieht auch den von den US-Medizinern postulierten Motivations-Effekt als fraglich an. Als Begründung führt er das Beispiel von Patienten mit gefährlich hohem Blutdruck an: Bei dieser Gruppe sind Rauchen und Bewegungsmangel besonders stark verbreitet – beide zählen zu den grössten Risikofaktoren bei Bluthochdruck.
«Das zeigt, dass viele trotz der Diagnose ihren Lebensstil nicht umstellen»
Karl-Heinz Ladwig, TUM-Forscher
Bei Menschen mit grenzwertigem Blutdruck zwischen 130-139/85-89 mmHg kann stattdessen ein ganz anderer Risikofaktor zum Tragen kommen. Seit einiger Zeit ist bekannt, dass zwischen psychischen Krisen, Depressionen und Herz-Kreislauf-Ereignissen mannigfaltige Wechselwirkungen bestehen.
Die Münchner Wissenschaftler hatten in einer früheren Studie gezeigt, dass Depressionen das Herz-Kreislauf-System ähnlich belasten wie hohe Cholesterinwerte und Fettleibigkeit.
Wie die Münchner Untersuchung ergab, wurde bei rund der Hälfte der Männer und Frauen, die wegen ihres Hochdrucks Medikamente einnahmen, depressive Stimmungslagen festgestellt. Das war nur bei etwa einem Drittel der Patienten der Fall, die sich nicht behandeln liessen.
«Wir nehmen an, dass es sich um einen Labeling-Effekt handelt. Wird man offiziell mit dem Etikett ‚krank‘ versehen, wirkt sich das auf die psychische Gesundheit aus.»
Karl-Heinz Ladwig
Nach Berechnungen des American College of Cardiology wird durch die neuen Leitlinien in den USA der Anteil der Erwachsenen mit der Diagnose Bluthochdruck von 32 auf 46 Prozent steigen. «14 Prozent werden also zusätzlich psychischem Druck ausgesetzt», sagt Ladwig – «ohne dass für sie eine signifikant höhere Gefahr bestehen würde, eine tödliche Herz-Kreislauferkrankung zu entwickeln und ohne dass eine Motivationswirkung der Diagnose zu erwarten wäre.»
Blutdruck natürlich senken
Die European Society of Cardiology empfiehlt bei einem Blutdruck im hochnormalen Bereich, die Blutdruckwerte auf natürliche Weise zu senken. Auch wenn es schwer ist und es viele dauerhaft nicht durchhalten: Durch eine Veränderung des Lebensstils kann es sogar Menschen mit ausgeprägtem Bluthochdruck gelingen, ohne Medikamente auszukommen oder zumindest deren Dosierung deutlich zu reduzieren.
Natürliche Blutdrucksenkung – die wirksamsten Massnahmen:
- Gewichtsabnahme: durchschnittlich 2 mmHg pro verlorenem Kilogramm
- Regelmässige körperliche Aktivität: Senkung um 5-10 mmHg möglich
- Salzreduktion: weniger Natrium in der Ernährung
- Alkohol reduzieren: massvoller Konsum oder Verzicht
- Rauchentwöhnung: sofortige positive Effekte
- Stressreduktion: Dauerstress belastet das Herz-Kreislauf-System
Besonders wirkungsvoll lässt sich nach Angaben der Deutschen Herzstiftung der Blutdruck durch eine Gewichtsabnahme senken. Dreiviertel aller übergewichtigen Menschen leiden unter Bluthochdruck. Experten weisen darauf hin, dass nicht alle Sportarten gleich gut geeignet sind und schon jedes Mehr an Bewegung im Alltag etwas bringt.
Fazit und Empfehlungen
Die Münchner Wissenschaftler sehen es als «grundsätzlich falsch» an, würden die Europäer die Leitlinien aus den USA übernehmen. Die frühe medikamentöse Behandlung von grenzwertigen Blutdruckwerten bietet keinen nachweisbaren Schutz, kann aber psychische Belastungen verursachen.
Statt vorschnell zu Medikamenten zu greifen, sollten bei Werten im hochnormalen Bereich zunächst Lebensstilmassnahmen im Vordergrund stehen. Die Ernährung kann sich nicht nur auf den Blutdruck auswirken, sondern beeinflusst auch andere Gesundheitsrisiken.
Eine individualisierte Betrachtung jedes Patienten bleibt entscheidend – nicht jeder Grenzwert erfordert sofortige medikamentöse Intervention.
Dieser Artikel basiert auf dem Originalbeitrag von Pamela Dörhöfer in der Frankfurter Rundschau und stellt aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zur Bluthochdruckbehandlung vor. Er dient der Information und ersetzt nicht die individuelle ärztliche Beratung.
Originalquelle: Frankfurter Rundschau – «Hohen Blutdruck nicht zu früh mit Medikamenten senken»